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Ödipus - Tragödien – Einband

8. Ödipus - Tragödien

Lieferbar auch auf Englisch

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Die dramatische Geschichte von Ödipus und seinen Nachkommen wird durch vier klassische griechische Tragödien wiedergegeben (König Ödipus, Ödipus auf Kolonos, Sieben gegen Theben, Antigone), die hier ein einheitliches Werk bilden, wobei die eine immer dort beginnt, wo die andere aufhört. Es folgt der Krieg der Epigonen. Das Gesamtwerk schließt in diesem letzten Band der Reihe mit dem Mythos der Herakliden, nach dem sich plötzlich ein geheimnisvolles Dunkel über die griechische Mythologie senkt.

8. Ödipus - Tragödien

 

Neu erzählt von Menelaos Stefanides
Mit 31 Zeichnungen von Jannis Stefanides
Übersetzung: Christina Tell
265 Seiten, ungebunden, Taschenbuch 16,5 x 11,5 cm

Ab 12 Jahren

ISBN-10: 9604250868, ISBN-13: 9789604250868

 

DAS GRAUSAME SCHICKSAL DES ÖDIPUS

 

„Ach, Zeus, du bist ein Tyrann. Du hast kein Erbarmen mit dem Menschen. Obwohl du ihn doch selbst erschaffen hast, hältst du nichts als Not und Elend für ihn bereit.“

 

Wenn der große Dichter Homer angesichts der Leiden des Odysseus so harte Worte findet, um den Herrn über die Götter und Menschen anzuklagen, was wäre dann erst über das bittere Los des Ödipus zu sagen?

 

Ödipus’ Schicksal war bereits besiegelt, bevor er selbst das Licht der Welt erblickte, denn sein Vater Laios hatte einen bösen Fluch auf sich geladen. Als er einst bei Pelops zu Gast war, dem König von Pisa, wie das heutige Olympia in jener Zeit genannt wurde, behandelte er dessen hübschen, jungen Sohn Chrysippos auf so entwürdigende Weise, dass sich der Knabe, der vor Scham nicht aus noch ein wusste, das Leben nahm. Pelops war über den Verlust seines Sohnes untröstlich, und er schrie seinen Gast in ohnmächtigem Zorn an:

 

„Sohn des Labdakos, du hast mein Kind auf dem Gewissen, und ich will dir sowohl einen Segenswunsch als auch einen Fluch mit auf den Weg geben: Ich wünsche dir, dass du niemals Kinder zeugst, damit du nicht erfährst, was es bedeutet, sie zu verlieren. Solltest du aber dennoch einen Sohn bekommen, so sei mein Fluch, dass du durch seine Hand den Tod findest.“

 

Laios gab nicht viel auf diese Worte. Er kehrte nach Theben zurück, wo er einige Zeit später seinem Vater Labdakos auf den Thron folgte, ohne zu ahnen, dass der Tag kommen würde, wo er seine Unverschämtheit teuer bezahlen würde und nicht nur er allein, sondern sein ganzes Geschlecht, vor allem aber der unschuldige Ödipus.

 

Laios heiratete Iokaste, die Tochter des Menoikeus, doch ihre Ehe blieb kinderlos. Der König war untröstlich, dass er keinen Sohn hatte, der nach seinem Tod regieren würde.

 

„Ich werde zum Orakel nach Delphi gehen“, verkündete er seiner Frau, „um die Ursachen für unser Unglück zu erfahren und Apollon zu bitten, dass er uns zu einem Stammhalter verhilft.“

 

Obwohl Iokaste auf Orakelsprüche nicht viel gab, war sie mit dem Plan ihres Mannes einverstanden. So machte sich Laios mit reichen Geschenken auf den Weg nach Delphi.

 

Dort erwartete ihn eine böse Überraschung. Apollons Antwort, die er aus dem Mund der weissagenden Priesterin vernahm, lautete:

 

„Sohn des Labdakos, du hast darum gebeten, Nachkommen zu zeugen, und dein Wunsch soll dir erfüllt werden. Du wirst einen Sohn haben, doch es ist dir bestimmt, durch die Hand des eigenen Kindes zu sterben. Dein ganzes Geschlecht wird im Blut untergehen. So wurde es von Zeus beschlossen, dem Sohn des Kronos, der dich damit für den tragischen Tod des hübschen Chrysippos bestrafen will.“

 

Niedergeschlagen verließ Laios die heilige Stätte. Die Antwort des Orakels hatte ihn völlig unvorbereitet getroffen.

 

„Pelops’ Verwünschungen waren also doch nicht nur leere Worte“, dachte er und sann während des gesamten Heimweges darüber nach, wie er seinem Schicksal entgehen könnte. Als er in den Palast kam, wo ihn Iokaste schon erwartete, fuhr er sie ungehalten an:

 

„Vom heutigen Tag an schlafen wir in getrennten Räumen.“

 

„Warum?“, fragte ihn seine Frau erstaunt.

 

„Damit wir niemals ein Kind bekommen.“

 

„Es erstaunt mich, diese Worte gerade aus deinem Mund zu hören“, versetzte Iokaste.

 

„Ja, nicht wahr? Dabei war es mein größter Wunsch, einen Sohn zu zeugen. Inzwischen hat mir aber das Orakel prophezeit, dass mich mein eigenes Kind töten wird.“

 

Die Königin zeigte sich von seiner Rede nicht sonderlich beeindruckt.

 

„Viele Orakelsprüche sind falsch“, wandte sie ein. „Ich verstehe nicht, wie du deine Meinung ändern konntest, wo wir so dringend einen Thronfolger benötigen.“

 

Laios war nun allerdings nicht mehr umzustimmen, und Iokaste, die sich sehnlichst ein Kind wünschte, beschloss, zu einer List zu greifen. Bei einem Festgelage schenkte sie ihrem Mann so lange Wein nach, bis dieser nicht mehr wusste, was er tat. Dann lockte sie ihn in ihr Schlafgemach und in ihre Arme.

 

Neun Monate später traf genau das ein, was Laios hatte verhindern wollen – seine Frau schenkte einem Knaben das Leben. Und während Iokaste vor Glück auf den Wolken schwebte, sann der König über eine Möglichkeit nach, das Kind aus der Welt zu schaffen, denn er zitterte bei dem Gedanken, dass das Orakel Recht behalten könnte. Schließlich fasste er einen Entschluss. Er übergab den Säugling seinem treuesten Hirten mit dem Befehl, ihn an den Hängen des Kithairon auszusetzen, damit ihn die wilden Tiere fräßen. Um den Knaben am Fortkriechen zu hindern, durchbohrte er dessen Fersen mit einem Nagel und band sie zusammen. Den Hirten wies er an, das Kind mit der gleichen Schnur an einen Baum zu binden. Als er das Entsetzen in den Augen des Mannes sah, herrschte er ihn an:

 

„Wenn du mir nicht aufs Wort gehorchst, werde ich persönlich dafür sorgen, dass du eines qualvollen Todes stirbst.“

 

„Mein Herr und Gebieter, ich werde deinen Befehl ausführen“, versicherte der Hirte.

 

Als er aber den Palast verließ, drangen gellende Schreie an sein Ohr. Es war Iokaste, die das Kostbarste verloren hatte, was eine Mutter verlieren kann, ganz gleich, ob sie nun Königin oder Bettlerin ist. Der arme Mann wies sofort jeden Gedanken, dem Kind etwas anzutun, weit von sich und grübelte den ganzen Weg über darüber nach, was er zu dessen Rettung unternehmen könnte.

 

In den Bergen traf er einen alten Bekannten, einen Hirten, der die Herden des Königs von Korinth beaufsichtigte, und weil er wusste, dass der andere ein gutes Herz hatte, vertraute er sich ihm an. Er nannte keine Namen, sondern erzählte nur, dass ihm von einem hartherzigen Fürsten ein Säugling mit dem Befehl übergeben worden war, ihn den wilden Tieren zum Fraß zu überlassen.

 

„Gib mir das Kind“, schlug der andere Hirte vor. „Ich werde es mit nach Korinth nehmen. Unser König Polybos hat keine Nachkommen, und ich bin sicher, dass er den Jungen mit Freuden aufnehmen wird.“

 

„Gut, doch ich habe eine Bedingung“, versetzte Laios’ Hirte. „Du darfst niemandem verraten, dass du den Säugling von mir hast. Erzähl ihnen, was du willst, nur nicht, dass es ein Bediensteter des Königs von Theben war, der ihn dir gegeben hat.“

 

Der andere versprach es. Die beiden Männer lösten die Schnur von den Füßen des Kindes und versorgten seine Wunden, so gut sie es vermochten. Dann nahm der Hirte des Königs von Korinth den Säugling mit zu seinem Herrn.

 

Polybos und seine Frau Merope freuten sich von Herzen über das unerwartete Geschenk, und weil sie keine eigenen Kinder besaßen, beschlossen sie, den Jungen an Sohnes statt anzunehmen und ihn nach ihrem Tode als Thronfolger einzusetzen. Seine Füße waren durch die erlittenen Misshandlungen stark angeschwollen, deshalb nannten sie ihn Ödipus – „Schwellfuß“.

 

Ödipus verbrachte seine Kindheit im Palast des Königs von Korinth und kam niemals auf den Gedanken, dass er nicht der Sohn von Polybos und Merope sein könnte. Er wuchs zu einem hübschen, kühnen Jüngling heran, der seinen Altersgenossen an Klugheit und Stärke weit überlegen war und sie, mit Ausnahme des Wettlaufs und des Weitsprungs, in allen sportlichen Disziplinen besiegte. Seine einzige Schwäche war sein aufbrausendes Temperament, das er von Laios, seinem wirklichen Vater, geerbt hatte.

 

Nun trug es sich zu, dass er während eines Festgelages von einem jungen Mann belästigt wurde, der zu viel getrunken hatte und nun stichelte und spottete, als ob er nicht wüsste, dass er den Thronfolger von Korinth vor sich hatte. Ödipus geriet in Rage und beschimpfte den Burschen vor allen Anwesenden, woraufhin dieser die Beherrschung verlor.

 

„Du Bastard“, schrie er Ödipus an, „du glaubst doch nicht im Ernst, dass du der Sohn des Königs bist!“

 

„Was hast du da gesagt?“, brüllte Ödipus außer sich vor Zorn und streckte den anderen mit einem Faustschlag nieder.

 

Dieser Zwischenfall brachte den jungen Thronfolger um den Schlaf. Er stellte Polybos und Merope zur Rede, doch der König und seine Frau setzten alles daran, um seine Zweifel zu zerstreuen und ihn in dem Glauben zu lassen, dass er ihr rechter Sohn sei. Ödipus aber konnte keine Ruhe mehr finden und beschloss, das Orakel von Delphi zu Rate zu ziehen. Als er vor die weissagende Priesterin trat, war er fest entschlossen, jede Antwort Apollons zu akzeptieren, selbst wenn dieser ihm eröffnen würde, dass er der Sohn eines Bettlers war.

 

Trotz dieses Vorsatzes überlief ihn ein kaltes Grausen, als er die Worte des Gottes vernahm:

 

„Fort von dieser heiligen Stätte, du Elender! Du wirst deinen Vater töten und seinen Thron besteigen, indem du die eigene Mutter heiratest. Deine Kinder werden bei Göttern und Menschen gleichermaßen verhasst sein.“

 

Ödipus war zu Tode erschrocken. In dem Glauben, dass sich der Orakelspruch auf Polybos und Merope bezog, beschloss er, nie mehr nach Korinth zurückzukehren. Er schlug den Weg nach Theben ein, der Stadt, in der Laios, sein wirklicher Vater, lebte und regierte…

 

Zur gleichen Zeit verließ Laios Theben, um nach Delphi zu fahren. Er wollte das Orakel fragen, wie er sein Land von der Sphinx befreien konnte, einem furchtbaren Ungeheuer, das überall Angst und Schrecken verbreitete. Außer dem Wagenlenker begleiteten ihn ein Herold und drei Diener. Der Zufall wollte es, dass sich Vater und Sohn, die einander nicht kannten, an einer Stelle trafen, wo von dem Weg, auf dem sie sich befanden, ein anderer zu dem nahegelegenen Daulis abging. Es war kaum genug Platz für das Gefährt, doch Ödipus, der nicht ahnen konnte, dass er den Wagen eines Königs vor sich hatte, blieb nicht stehen, zumal er glaubte, am äußersten Rand des Weges noch vorbeizukommen.

 

„Halt, junger Mann“, rief ihm Laios zu. „Lass erst jene durch, die mehr wert sind als du!“

 

„So jemanden gibt es nicht, mit Ausnahme meiner Eltern und der Götter“, erwiderte Ödipus und versuchte, neben dem Wagen durch den Engpass zu kommen.

 

„Ich werde es dir schon zeigen, du Wichtigtuer!“, schrie der Wagenlenker und riss die Zügel zurück, so dass der Wagen von seinem geraden Kurs abkam und Ödipus über die Füße rollte. Im gleichen Augenblick hob Laios seine Peitsche und ließ sie mit aller Wucht auf das Gesicht des jungen Mannes niedersausen. Damit nahm das Schicksal seinen Lauf. Ödipus, der vor Schmerz wie von Sinnen war, stieß Laios mit seinem Wanderstab so heftig vor die Brust, dass dieser das Gleichgewicht verlor und sich auf dem spitzen Gestein zu Tode stürzte. Als die Männer des Königs sahen, wie es ihrem Herrn ergangen war, fielen sie mit Schwert und Speer über Ödipus her. Sie verfügten allerdings weder über die Kraft noch über die Geschicklichkeit des jungen Mannes. Schon wenige Minuten später war von ihnen keiner mehr am Leben, außer einem, der es vorgezogen hatte, so schnell wie möglich davonzulaufen.

 

Nach diesem Zwischenfall setzte Ödipus seinen Weg fort, ohne zu ahnen, dass er den König von Theben getötet hatte, der obendrein sein leiblicher Vater war.

 

Als er nach einiger Zeit an die Hänge des Phikion kam, sah er vor sich am Wegrand die Sphinx auf einem Felsen sitzen.

 

Die Sphinx war ein Ungeheuer mit dem Kopf und der Brust einer Frau, dem Körper eines Löwen, Flügeln eines Adlers und eisernen Krallen. Ihr Schwanz endete in einem Drachenkopf. Sie war eine Ausgeburt zweier schrecklicher Wesen, des Typhon und der Echidne. Seit sie sich in der Gegend um Theben aufhielt, lebten die Thebaner in ständiger Angst, denn weder sie selbst noch ihre Herden waren vor den Krallen des Untiers sicher. Viele tapfere Jünglinge zogen aus, um die Stadt von dem Fluch zu befreien, doch keiner von ihnen kehrte jemals zurück. Die Sphinx lauerte den Vorübergehenden auf, um ihnen ein Rätsel aufzugeben, und wenn sie es nicht lösen konnten, verschlang sie sie mit Haut und Haaren. Es hieß, dass das Untier sich von einem Felsen stürzen würde, falls sich jemand fände, der die richtige Antwort erriet. Was das aber für ein Rätsel war, wusste niemand zu sagen, denn keiner von denen, die es gehört hatten, wurde jemals wieder gesehen.

 

Ödipus ging beherzt auf die Sphinx zu. Es war überall bekannt, wieviel Schaden das Untier anrichtete, deshalb war er fest entschlossen, entweder das Land von der furchtbaren Geißel zu befreien oder aber zu sterben, wie schon so viele andere vor ihm.

 

Das geflügelte Ungeheuer zeigte keinerlei Neigung, ihn anzugreifen. Zuerst wollte es ihn demütigen, indem es ihm das Rätsel aufgab, das niemand zu lösen vermochte.

 

„Welches Wesen läuft am Morgen auf allen vieren, am Mittag auf zwei und am Abend auf drei Beinen?“, fragte es.

 

Ödipus zögerte nicht mit der Antwort.

 

„Es ist der Mensch“, sagte er. „Zu Beginn seines Lebens kriecht er auf allen vieren, sobald er heranwächst, läuft er auf zwei Beinen, und im hohen Alter stützt er sich auf einen Stock.“

 

Er hatte noch nicht geendet, als die Sphinx entsetzt auffuhr und sich von dem hohen Felsen, auf dem sie saß, in die Tiefe stürzte. Im selben Augenblick hallte es wie Donner durch alle Bergschluchten. Das war das Ende des schrecklichen Ungeheuers. Ödipus war durch die Kraft seines Verstandes zum Retter Thebens geworden. Wie er weiterging, traf er immer wieder auf Menschen, die sich aus Angst vor der Sphinx versteckt gehalten hatten und nun voller Freude und Dankbarkeit zu ihm gelaufen kamen, um ihn zu umarmen und ihn ein Stück Wegs zu begleiten.

 

Mittlerweile war jener Diener in Theben eingetroffen, der Augenzeuge der Ereignisse in dem Engpass bei Delphi gewesen war. Atemlos berichtete er vom Tod seines Herrn und seiner Gefährten. Da er sich aber der Tatsache schämte, dass sie zu fünft einem einzigen Mann unterlegen gewesen waren, behauptete er, dem königlichen Wagen hätte eine Räuberbande aufgelauert.

 

Einige Tage später, als die Totenklagen um den König von Theben verstummt waren, rief Iokastes Bruder Kreon das Volk zusammen.

 

„Bürger von Theben“, sprach er, „die Götter kennen kein Erbarmen. Als ob es nicht schon schlimm genug wäre, Tag für Tag mit der Furcht vor der Sphinx zu leben, verlieren wir obendrein noch unseren König, gerade als er beim Orakel Rat einholen wollte, was wir gegen das schreckliche Ungeheuer unternehmen können. Unser Land ist nun schon mehrere Tage ohne Führung, denn wie ihr wisst, haben wir keinen Thronfolger. Ein Schiff ohne Kapitän kann nicht weit kommen, andererseits nützt auch der beste Kapitän der Welt nicht viel, wenn man es mit einem Ungeheuer wie der Sphinx zu tun hat. Aus diesem Grund sollten wir einen Entschluss fassen, durch den wir beide Probleme gleichzeitig lösen können. Ich schlage vor, dass derjenige den Thron und die Königin bekommen soll, der die Stadt von der furchtbaren Geißel befreit.“

 

Als die Bürger von Theben diese Worte vernahmen, erstarrten sie. Die verwegensten Recken waren schon ausgezogen, um die Stadt zu retten, doch keiner von ihnen war mit dem Leben davongekommen. Wer würde es jetzt noch mit der Sphinx aufnehmen wollen, wo man doch wusste, dass das den sicheren Tod bedeutete?

 

In diesem Augenblick kam ein Thebaner herbeigelaufen.

 

„Brüder“, rief er, „ihr braucht euch nicht mehr zu fürchten! Die Sphinx ist tot. Sie hat sich von einem Felsen gestürzt, weil ein tapferer junger Mann das Rätsel gelöst hat.“

 

Ein Aufschrei ging durch die Menge. Manche der Anwesenden weinten vor Freude, andere wiederum konnten es nicht glauben, dass die Stadt tatsächlich von dem schrecklichen Fluch erlöst war. Dann hörte man Jubelrufe, und im nächsten Moment drängte sich eine Menschentraube durch die Tore. Die Thebaner, die Ödipus unterwegs getroffen hatte, führten ihn in die Stadt und hoben ihn zu Kreon auf das Rednerpodest. Nun gab es keinen Zweifel mehr. Das Ungeheuer war tot, und vor ihnen stand der Retter der Stadt, der zum Lohn für seine Tat den Thron und die Königin bekommen würde.

 

So kam es, dass Ödipus, der unwissentlich seinen Vater getötet hatte, den Thron von Theben bestieg und seine Mutter heiratete. Er war sehr glücklich, glaubte er doch, dass er seinem Schicksal entrinnen könnte, wenn er nie wieder nach Korinth zurückkehrte.

 

Armer Ödipus! Wie sollte er ahnen, dass er den Vater bereits getötet und die Mutter bereits geheiratet, dass sich alles, aber auch alles erfüllt hatte. Sein Schicksal war schon entschieden, bevor er überhaupt geboren wurde, weil es Apollon so gefiel.

 

Ödipus und Iokaste bekamen vier Kinder, zwei Knaben, Eteokles und Polyneikes, und zwei Mädchen, Antigone und Ismene. So erfüllte sich auch der letzte Teil des Orakelspruches. Ödipus hatte Kinder mit seiner eigenen Mutter gezeugt, Kinder, die gleichzeitig seine Geschwister waren, und weder er selbst noch irgendjemand anders ahnten etwas davon. Nur Teiresias, der blinde Seher der Stadt, drehte jedesmal sein Gesicht weg, wenn er spürte, dass der König in der Nähe war, doch es kam kein Wort über seine Lippen.

 

Ödipus herrschte gütig und weise, und das Volk, das stets den Retter in ihm sah, liebte ihn sehr. Dieser Zustand hielt viele Jahre an. Der König von Theben war ein zufriedener Mann, und er glaubte, dass die Götter sein Wirken mit Wohlwollen betrachteten.

 

Die Unsterblichen hatten freilich nicht vergessen, dass das Geschlecht des Labdakos eine Schuld zu bezahlen hatte. Wenn ihre Strafe vorerst ausblieb und Ödipus ein glückliches Leben führte, so hieß das nicht, dass sie ihm seine unwissentlich begangenen Freveltaten vergeben hätten oder dass Pelops’ Fluch hinfällig geworden wäre. Die Götter ließen Ödipus die Leiter des menschlichen Glückes Stufe für Stufe erklimmen, ja sie halfen ihm sogar dabei, doch taten sie das nur, um seinen Absturz noch schmerzhafter zu machen.

 

Weshalb aber?

 

Einfach so, um den Menschen zu zeigen, wie groß ihre Macht war…

 

Nein, sie hatten Ödipus nicht vergessen, obwohl er eigentlich unschuldig war. Es war ihm bestimmt, die Wahrheit selbst zu enthüllen, und er gab selbst dann noch keine Ruhe, als er sie schon in ihrer ganzen Ungeheuerlichkeit ahnte. Sie musste ans Licht gebracht werden, so hoch der Preis dafür auch sein mochte. Und weil die Unschuldigen das Gewissen oft ärger plagt als die Schuldigen, erlegte er sich selbst eine Strafe auf, wie sie härter nicht sein konnte.

 

All das erfahren wir in Sophokles’ unsterblichen Meisterwerk „König Ödipus“, auf dem der folgende Text basiert.


Textauszug aus dem Buch "Ödipus - Tragödien" von Menelaos Stefanides
Copyright © Dimitris M. Stefanides. Ein vollständiger oder teilweiser Nachdruck dieses Auszuges ist ohne vorherige schriftliche Genehmigung des Verlages nicht erlaubt


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