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Griechische Volksmärchen I - Einband

Griechische Volksmärchen I

(German)

Lieferbar auch auf Englische und Französisch

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Die zwölf griechischen Volksmärchen dieser zweibändigen Ausgabe wurden mit großer Sorgfalt ausgewählt. Sie entführen den Leser in eine phantastische Welt voller Abenteuer, in der Zauberinnen, Riesen und Ungeheuer ihr Unwesen treiben und Tiere wie Menschen sprechen können. Es wird von Heldentaten und von menschlichen Schwächen berichtet, und immer wieder ist es die Liebe, die alle Hindernisse überwindet. Schauplatz des Geschehens ist die griechische Landschaft mit ihren unverwechselbaren Farben und Gerüchen und ihrem überwältigenden Licht. Diese Märchen wenden sich an alle Altersgruppen. Sie wurden über Jahrhunderte hinweg an langen Winterabenden und in sternklaren Sommernächten erzählt und sind auf diese Weise auch zu uns gelangt.

 

Die beiden Bände schließen mit einigen charakteristischen Beispielen griechischer Volksdichtung, die wie Märchen in Reimform anmuten. Einen besonderen Reiz erlangt diese Ausgabe durch die Tuschzeichnungen der profilierten Malerin und Illustratorin Fotini Stefanidi.

Griechische Volksmärchen I

 

Text: Menelaos Stefanidis
Illustrationen: Fotini Stefanidi
Übersetzung: Christina Tell
192 Seiten, ungebunden, Taschenbuch 16,5 x 11,5 cm

Ab 12 Jahren

ISBN-10: 9604250841, ISBN-13: 9789604250844

 

DIE MARMORPRINZESSIN

 

Es war einmal ein Mann und eine Frau, die hatten nur einen einzigen Sohn, doch der war ein mutiger, lebhafter Knabe und viel mehr wert als zehn Kinder zusammen.

 

Ihr ganzer Besitz bestand aus zwei Kühen und einem kleinen, kargen Stück Land, das ihnen als Weide diente. Wie sollten sie so ihr Dasein fristen? Die abgemagerten Tiere, die niemals richtig satt wurden, gaben nur wenig Milch, und die armen Leute hatten nicht das Nötigste zum Leben.

 

Nun gab es in der Nähe ihres bescheidenen Anwesens eine große Wiese mit saftigem Gras, die niemals genutzt wurde. Hätten sie die Kühe dort weiden lassen, ihr Leben wäre um vieles leichter gewesen.

 

„Vater“, sagte eines Tages der Junge, „warum treiben wir die Kühe nicht auf die Nachbarwiese?“

 

„Weil sie einem Riesen gehört, mein Kind, einem schrecklichen Riesen, der nichts als Böses im Sinn hat.“

 

Dem Jungen aber wollte es nicht einleuchten, dass so viel fruchtbares Land ungenutzt blieb. Was würde es schon ausmachen, wenn die Kühe zweier armer Leute auf der Wiese weideten. „Es ist ungerecht“, dachte er. Und weil seine Eltern gute und gerechte Menschen waren, war er selbst es auch, und es fehlte ihm nicht an Mut, es mit dem schrecklichen Riesen aufzunehmen.

 

„Weißt du, Vater“, sagte er schließlich, „wir sollten unsere Kühe auf die Wiese des Riesen treiben.“

 

„Was redest du da, mein Kind? Der Bösewicht wartet nur auf eine Gelegenheit, um unser Haus dem Erdboden gleichzumachen und uns das wenige Land wegzunehmen, das wir besitzen. So hat er es schon mit all seinen Nachbarn gemacht.“

 

„Wenn es so ist, Vater, dann müssen wir gegen ihn kämpfen.“

 

„Mein Gott“, murmelte der arme Mann, „mein Sohn ist nicht ganz bei Trost.“ Und damit der Junge kein Unheil anrichtete, führte er die Kühe von nun an selbst auf die Weide, wobei er immer ängstlich darauf bedacht war, sie nicht auf die Wiese des Riesen zu lassen.

 

Dann wurde der Knabe fünfzehn Jahre alt, und er grübelte Tag und Nacht nur darüber nach, was er unternehmen könnte, damit der schreckliche Riese in Zukunft niemandem mehr Schaden zufügte. Sein Vater ließ ihn jedoch nicht ein einziges Mal mit den Kühen auf die Weide.

 

Nun traf es sich, dass der Vater krank wurde und das Bett hüten musste. Der arme Mann wollte die Frau in seiner Nähe wissen, deshalb blieb ihm nichts anderes übrig, als den Sohn auf die Weide zu schicken.

 

„Gib nur Acht, dass die Kühe nicht auf die Wiese des Riesen gehen“, warnte er ihn, „sonst sind wir verloren.“

 

„Gut, Vater“, entgegnete der Junge, der seinem kranken Vater keinen Kummer bereiten wollte. Und er hielt sein Wort.

 

Auch in den nächsten Tagen verfuhr er so, wie ihm der Vater aufgetragen hatte, und als dieser wieder gesund war, erlaubte er seinem Sohn weiterhin, die Kühe auszutreiben.

 

Eines Abends jedoch, als der Junge die Tiere zurückbrachte, hatten sie Bäuche, so prall und rund wie Wassermelonen.

 

„Wie kommt es, dass sie so viel gefressen haben?“, wunderte sich der Vater. Dann wich plötzlich alle Farbe aus seinem Gesicht. „Du hast sie doch nicht etwa auf die Wiese des Riesen gelassen?“

 

„Doch, Vater, genau das habe ich getan. Und ich werde sie von nun an jeden Tag dort weiden lassen.“

 

Der Vater glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen.

 

„Willst du dich wirklich mit dem gefährlichen Riesen einlassen und uns alle ins Unglück stürzen?“

 

„Ich werde nicht zulassen, dass er uns etwas tut, Vater. All unser Leid hat jetzt ein Ende. Glaub mir, der Riese wird das Nachsehen haben.“

 

„Nun hat unser Kind völlig den Verstand verloren“, sprach der arme Mann. „Wenn man es sich aber recht bedenkt, so ist das kein Leben, das wir führen. Was für einen Unterschied macht es da, ob das Schicksal eine Stunde früher oder später seinen Lauf nimmt.“

 

Am nächsten Morgen trieb der Junge die Kühe abermals auf die verbotene Wiese, wo ihn der Riese bereits erwartete.

 

„Was hast du hier zu suchen, du elender Wurm!“, brüllte er mit donnernder Stimme.

 

„Ich lasse hier meine Kühe weiden, weil es genug saftiges Gras gibt.“

 

„Weißt du eigentlich, wem diese Wiese gehört?“

 

„Ja, das weiß ich. Ich habe allerdings gesehen, dass sie nicht genutzt wird.“

 

„Wie redest du mit mir? Was glaubst du, wen du vor dir hast?“

 

„Du bist der schreckliche Riese, der nicht einmal seinem eigenen Schutzengel ein Glas Wasser gönnt. Ich habe aber keine Angst vor dir!“

 

„So, so, du hast also keine Angst vor mir?“

 

„Nein, ich habe keine Angst vor dir.“

 

„Potz Blitz, das nenne ich Mut! Nun gut, wenn es so ist, dann komm mit. Ich zeige dir, wo ich wohne, und wir werden sehen, ob du Angst hast oder nicht.“

 

„Einverstanden, gehen wir!“

 

Lange Zeit liefen sie durch die Wiesen und Felder des Riesen, bis sie schließlich vor einer gewaltigen Burg standen, die weit in den Himmel ragte.

 

„Hier wohne ich!“, sprach der Riese voller Stolz, während die Wachen das schwere Eisentor öffneten.

 

Sie traten in einen großen Hof, dessen eine Hälfte durch eiserne Gitter abgetrennt war. Dahinter waren die verschiedensten Tiere zusammengepfercht, angefangen von Katzen und Hunden bis hin zu Wölfen und Löwen.

 

„Was sind das für Tiere?“, fragte der Hirtenjunge.

 

„Das wirst du erfahren, wenn du ihnen Gesellschaft leisten musst“, entgegnete der Riese.

 

Dann betraten sie die Burg.

 

„Willst du alle Zimmer sehen?“, fragte der Riese. „Schau sie dir nur an, damit du weißt, mit wem du es zu tun hast. Es wird dir jedoch nicht viel nützen, weil es dir schließlich genauso ergehen muss wie den anderen vor dir.“

 

„Mir wird nichts passieren, ich möchte die Zimmer sehen.“

 

„Gut, dann nimm dieses Schlüsselbund.“ Der Riese gab ihm vierzig Schlüssel, die an einem eisernen Ring steckten. „Schau dich in Ruhe um“, sagte er spöttisch und ließ den Jungen allein.

 

Dieser schloss das erste Zimmer auf.

 

Der Raum war leer bis auf ein Paar Pantoffeln. Der Hirtenjunge streifte sie über, und es wurde ihm gleich so leicht, dass er ohne die geringste Anstrengung bis an die Decke hüpfen konnte. Mit solchen Zauberschuhen wäre er imstande, über den breitesten Fluss zu springen!

 

„Es wird dir nicht viel nützen“, hatte der Riese gesagt. „Doch, sie werden mir nützen!“, dachte der mutige Junge und steckte die Pantoffeln in seinen Beutel.

 

Er öffnete das zweite Zimmer, und sein Blick fiel auf ein kleines Schwert und ein dazu passendes Futteral. Die Waffe lag auf einem runden Tisch, der in Wirklichkeit ein dicker Baumstamm war. Der Junge tippte den Stamm leicht mit der Schwertspitze an, worauf dieser in zwei Teile zersprang.

 

„Das Schwert besitzt Zauberkräfte“, dachte der Hirtenjunge. Er schob es in die Scheide und steckte es in seinen Beutel.

 

Im dritten Zimmer fand er eine Kappe. Sobald er sie aufsetzte, wurde er unsichtbar, nahm er sie ab, war er sichtbar wie zuvor. „So eine Tarnkappe werde ich gut gebrauchen können“, dachte er und steckte sie in seinen Beutel.

 

Als er das vierte Zimmer öffnete, sah er, dass es mit Goldstücken gefüllt war. Im fünften Zimmer funkelten wertvolle Diamanten, und aus dem sechsten quollen ihm schimmernde Perlen entgegen. Eine Tür nach der anderen schloss der Hirtenjunge auf und entdeckte dabei immer neue Schätze. Er war von all dem Reichtum wie geblendet, doch er rührte nichts an. „Ich habe mir genug genommen“, dachte er.

 

Zwei Zimmer waren noch übrig. Der Junge öffnete das erste und blieb wie angewurzelt stehen. Auf einem mit Schnitzereien verzierten Bett lag ein Mädchen, so schön wie ein Engel. Es sah aus, als ob es schliefe, doch als der Hirtenjunge näher trat, stellte er fest, dass es zu Marmor erstarrt war. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, so schön war das Mädchen, gleichzeitig aber fühlte er Mitleid und eine ohnmächtige Wut gegen den Riesen in sich aufsteigen, denn er nahm an, dass er es in diese Lage gebrachte hatte.

 

„Ich muss den Zauber brechen, doch wie fange ich das an?“, fragte er sich. „Vielleicht fällt mir etwas ein, wenn ich das letzte Zimmer gesehen habe. Wenn mir der Riese eine Falle stellen will, so wird er es dort tun. Gelingt es mir, ihn zu besiegen, dann wird alles gut. Ich werde das schöne Mädchen wieder zum Leben erwecken und es zur Frau nehmen, wenn es mich will.“

 

Mit äußerster Vorsicht schloss der Junge die letzte Tür auf und fand sich in einem weitläufigen Saal wieder. Mit einem liebenswürdigen Lächeln auf den Lippen kam ihm eine stattliche Frau entgegen. Sie hatte geschwungene Brauen, große schwarze Augen und ein energisches Kinn. Im hinteren Teil des Raumes saß der Riese auf einem hohen Thron.

 

Die Frau, die weder alt noch jung war, hielt einen Stab in der Hand. Sie sprach kein Wort, sondern bedeutete dem jungen Mann mit einer Handbewegung näher zu treten. Dieser wusste sofort, dass er es mit einer Zauberin zu tun hatte, und gehorchte ihr nur widerstrebend. Da kam ihm die Frau schon entgegen und hob ihre Hand, um ihn mit dem Zauberstab am Kopf zu berühren. Der Hirtenjunge riss ihr blitzschnell den Stab aus der Hand und brach ihn entzwei. Damit war alles entschieden. Die Zauberin wurde vor Entsetzen blass und schrie verzweifelt auf, der Riese aber stürzte von seinem hohen Thron kopfüber zu Boden.

 

Nun hatte der Hirtenjunge ein gutes Herz und fühlte selbst mit dem schrecklichen Riesen noch Mitleid. Er lief zu ihm, während ihn die Zauberin keinen Augenblick aus den Augen ließ.

 

„Ich brauche keine Hilfe mehr“, sagte der Riese, „denn ich fühle mein Ende nahen. Du hast mich besiegt und damit dein Leben gerettet, es wird dir also nicht ergehen wie den Tieren im Hof, die alle einst Menschen waren. Meine Burg mit ihren Schätzen gehört jetzt dir, meine Wachen und Diener werden dir gehorchen. Du besitzt die vierzig Schlüssel, und mit dem letzten kannst du nicht nur diesen Saal, sondern auch das eiserne Tor aufschließen, wenn du die Burg verlassen willst. Ich wollte dein Verderben, doch jetzt werde ich dir helfen. Im hinteren Hof der Burg steht ein geflügeltes Pferd. Es kann nicht nur fliegen, sondern auch sprechen und die Zukunft vorhersagen. Du musst versuchen, seine Freundschaft zu gewinnen, denn du wirst seine Hilfe brauchen. Auch die Pantoffeln werden dir nützen, damit du hoch und weit springen kannst, das Schwert zertrennt alles, was sonst untrennbar ist, und die Tarnkappe macht dich unsichtbar. Hast du gesehen, wie schön das Mädchen aus Marmor ist? Es ist die Tochter eines Fürsten, die ich entführt habe, um sie zu meiner Frau zu machen. Ich habe nie herausgefunden, warum sie mich nicht einmal ansehen wollte, und glaubte, dass ich sie mit der Zeit für mich gewinnen könnte. Meine Liebe zu ihr erregte den Neid einer bösen Zauberin, und sie ließ sie zu kaltem Marmor erstarren. Wenn du den Zauber brechen willst, musst du die böse Frau fangen und sie zwingen, die Prinzessin und die vielen Menschen, die sie in Tiere verwandelt hat, zu erlösen.“

 

Kaum hatte die Zauberin diese Worte vernommen, als sie die Flucht ergriff. Der Junge sprang auf und lief hinter ihr her, doch die Zauberin löste sich in Rauch auf und verschwand. Nur ihre Stimme war noch zu hören: „Ich bin in der Roten Burg, wo du mich niemals finden kannst. Sollte es dir dennoch gelingen, so bist du verloren.“

 

Der Junge kehrte zu dem Riesen zurück, um den sich inzwischen die Diener und Wachen versammelt hatten, die ihrem Herrn zu Hilfe geeilt waren. Sie konnten allerdings nichts mehr für ihn tun. Der schreckliche Riese war tot.

 

Als sie den jungen Mann bemerkten, wandten sie sich um und sprachen:

 

„Du bist unser neuer Herr. Wir erwarten deine Befehle!“

 

Doch der Hirtenjunge wollte keine Zeit verlieren. Er lief in den hinteren Hof der Burg, wo er das geflügelte Pferd fand, das heftig durch die Nüstern schnaubte, als es den Fremden erblickte. Der Junge streichelte den Hals des Tieres und sprach zu ihm, als ob es ein Mensch wäre:

 

„Ich möchte die Marmorprinzessin retten und all die Menschen erlösen, die die Zauberin in Tiere verwandelt hat. Du musst mir helfen, die böse Frau zu finden. Sie lebt in der Roten Burg, hat sie gesagt. Wenn du weißt, wo das ist, und wenn du etwas Gutes tun willst, dann bring mich dorthin.“

 

Das Pferd wieherte zutraulich und begann mit menschlicher Stimme zu sprechen:

 

„Du hast Glück, denn ich bin das einzige Wesen auf der Welt, das weiß, wo sich die Rote Burg befindet. Du musst nur auf meinen Rücken steigen. Ich sehe, dass du gute Absichten hast, deshalb will ich dir helfen. Glaube aber nicht, dass es so einfach sein wird, die Zauberin zum Gehorsam zu zwingen. Bevor wir uns auf den Weg machen, geh noch rasch in meinen Stall. Auf einem Brett an der Wand wirst du einen Spiegel, ein Klappmesser und ein Tuch finden. Steck diese Dinge ein, denn mit ihnen hat es eine besondere Bewandtnis.“ Das Pferd erklärte dem Jungen, auf welche Weise ihm die drei Gegenstände nützen konnten.

 

Der Junge tat, was ihm das Pferd geraten hatte. Dann schwang er sich auf den schimmernden Rücken des Tieres, das sofort seine großen Schwingen ausbreitete und sich in die Lüfte erhob.

 

Sie waren schon eine Weile unterwegs, als vor ihnen plötzlich eine blaue Wolke erschien.

 

„Was ist das für eine Wolke?“, fragte der Junge.

 

„Das ist keine Wolke. Das ist der Jüngling des Meeres. Komm, lass uns zu ihm fliegen.“

 

„Sei gegrüßt“, sagte der Hirtenjunge zum Jüngling des Meeres, als sie bei ihm ankamen.

 

„Willkommen, junger Freund. Du bist ein kräftiger Bursche, genau wie ich, doch um ehrlich zu sein, mit jenem Teufelskerl, der den schrecklichen Riesen besiegt hat, können wir uns beide nicht messen.“

 

„Wenn du ihn treffen würdest, wie würdest du ihn nennen?“

 

„Ich würde ihn Bruder nennen.“

 

„Nun, er steht vor dir. Komm, lass uns Brüder werden!“

 

Sie umarmten und küssten sich, und nachdem sie sich in den Finger gestochen und Blutsbrüderschaft geschlossen hatten, zogen sie gemeinsam weiter.

 

Kurze Zeit später kamen sie in eine Stadt. Mitten auf einem großen Platz hatten sich viele Menschen versammelt, unter ihnen auch der König mit seinen zwölf Ratgebern. Alle standen bekümmert um einen Marmorblock herum, der so groß war, dass ihn nicht einmal sechs Männer mit ausgestreckten Armen umfassen konnten.

 

Die Einwohner der Stadt hatten den lieben Gott immer wieder aufs Neue angefleht, den „verwunschenen Stein“, wie sie ihn nannten, zu spalten, denn sie wussten, dass damit all ihre Not ein Ende finden würde. Der Herrgott hatte allerdings andere Sorgen, und der Marmor war so hart, dass man vergeblich versuchte, ihm mit Werkzeugen verschiedenster Art beizukommen. Niemand brachte es fertig, auch nur die kleinste Schramme in die glatte Oberfläche des Steines zu ritzen.

 

Der Hirtenjunge trat an den riesigen Stein heran und las eine Inschrift:

Mich zu spalten, wem das gelingt,
Der Stadt damit den Wohlstand bringt.

 

Er zog sein Zauberschwert aus der Scheide und hieb auf den Marmorblock ein, der wie durch ein Wunder in zwei Teile zersprang und unzählige Goldstücke freigab, die in seinem Innern verborgen gewesen waren. Die Einwohner der Stadt nahmen sich von dem Gold, was sie nur tragen konnten, und für den König blieb noch einmal so viel übrig.

 

Da wussten sie alle der Dankesworte nicht genug, und der König sagte zu dem Hirtenjungen:

 

„Du hast meinem Volk und mir einen großen Dienst erwiesen und bist es wert, meine Tochter zu heiraten.“

 

„Ich danke Euch, Majestät, aber ich bin nicht mehr frei. Gebt Eure Tochter meinem Bruder zur Frau, dem edlen Jüngling des Meeres. Ihm gebührt größere Ehre als mir.“

 

Der König war es zufrieden, und der Jüngling des Meeres heiratete die schöne Königstochter.

 

Bevor sie sich trennten, gab der Hirtenjunge seinem Bruder den Spiegel, den er im Stall des geflügelten Pferdes gefunden hatte.

 

„Nimm diesen Spiegel. Wenn er sich trübt, dann bedeutet das, dass ich deine Hilfe benötige.“

 

Mit diesen Worten schwang er sich auf den Rücken seines Zauberpferdes, und sie erhoben sich in die Lüfte, um ihren Weg zu der Roten Burg fortzusetzen.

 

Nach einer Weile tauchte vor ihnen eine schwarze Wolke auf.

 

„Was ist das für eine sonderbare Wolke?“, fragte der Junge.

 

„Das ist keine Wolke“, antwortete das Pferd. „Das ist der Jüngling des Landes. Komm, lass uns zu ihm fliegen.“

 

„Sei gegrüßt“, sagte der Hirtenjunge, sobald sie nahe genug herangekommen waren.

 

„Willkommen, junger Freund. Du bist ein kräftiger Bursche, genau wie ich, doch um ehrlich zu sein, mit jenem Teufelskerl, der den schrecklichen Riesen besiegt und mit einem Schwertstreich den verwunschenen Stein gespalten hat, können wir uns beide nicht messen.“

 

„Wenn du ihn treffen würdest, wie würdest du ihn nennen?“

 

„Ich würde ihn Bruder nennen.“

 

„Nun, er steht vor dir. Komm, lass uns Brüder werden!“

 

Sie umarmten und küssten sich, und nachdem sie sich in den Finger gestochen und Blutsbrüderschaft geschlossen hatten, zogen sie gemeinsam weiter.

 

Sie flogen über eine große Stadt, die durch einen breiten Fluss in zwei Hälften geteilt war.

 

„Das ist der ‚verhexte Fluss‘“, sagte das Pferd. „Er heißt so, weil ein Zauber auf ihm liegt, der bewirkt, dass er immer wieder über die Ufer tritt und dabei großen Schaden anrichtet. Die Überschwemmungen werden erst dann aufhören, wenn der Wasserlauf seine Richtung ändert, und es heißt, dass dies wiederum nur geschehen kann, wenn es jemandem gelingt, ihn mit einem einzigen Satz zu überspringen. Wie du siehst, ist das jedoch unmöglich.“

 

In diesem Augenblick drangen die Stimmen der königlichen Herolde an ihr Ohr, die verkündeten, dass der König seine Tochter demjenigen zur Frau gebe, der die Stadt von dem Fluch befreie.

 

„Lass uns dort in der Nähe des Schlosses landen“, sagte der Hirtenjunge.

 

Das Pferd gehorchte, und der Junge ging geradewegs zum König.

 

„Majestät, möge Euch ein langes Leben beschieden sein“, sprach er. „Ich kann den Fluss mit einem Satz überspringen.“

 

„Das glaube ich nicht, aber du kannst es trotzdem versuchen. Wenn es dir gelingt, gebe ich dir meine Tochter zur Frau und obendrein noch den Thron dazu.“

 

Der König, der insgeheim auf ein Wunder hoffte, begab sich mit seinen Ratgebern an das Ufer des Flusses.

 

Der Hirtenjunge zog seine Zauberpantoffeln an, nahm Anlauf, und das Wunder geschah. Mit einem mächtigen Satz sprang er über den breiten Wasserlauf. Gleich darauf ereignete sich ein zweites Wunder. Der Fluss begann zu brodeln und zu schäumen, denn er strömte jetzt nicht mehr zum Meer, sondern in die entgegengesetzte Richtung, wobei er mehr und mehr anschwoll, bis er einen in der Nähe befindlichen Berg erklomm und auf dessen anderer Seite wieder ins Tal stürzte. Die tosenden Fluten rissen das weiche Erdreich mit sich fort, tief und tiefer schnitt sich der Fluss in den Berg ein und bildete eine Schlucht. Es lag nun kein Fluch mehr auf ihm, sondern der reine Segen, denn er bewässerte eine große Ebene, die bis zu jenem Zeitpunkt trocken und unfruchtbar geblieben war.

 

Der König war außer sich vor Freude, er umarmte und küsste den Jungen und sprach zu ihm:

 

„Du hast dir meine Tochter und mein Königreich wahrlich verdient.“

 

„Nein, Majestät“, entgegnete der Hirtenjunge, der unentwegt an die schöne Prinzessin aus Marmor denken musste, „ich kann Eure Tochter nicht heiraten, gebt sie meinem Bruder zur Frau, dem Jüngling des Landes. Ihm gebührt größere Ehre als mir.“

 

Und so geschah es auch. Beim Abschied sagte der Hirtenjunge zu seinem Blutsbruder:

 

„Nimm dieses Messer und lass es offen. Wenn es sich schließt, dann weißt du, dass ich deine Hilfe benötige, und du musst zu mir kommen, wo immer ich auch bin.“

 

Der Junge stieg auf das geflügelte Pferd und setzte seine Reise zu der Burg der bösen Zauberin fort.

 

Plötzlich tauchte vor Pferd und Reiter eine glutrote Wolke auf.

 

„Was ist das für eine feurige Wolke?“

 

„Das ist keine Wolke“, antwortete das Pferd. „Es ist der Jüngling des Himmels, der Sohn der Sonne.“

 

„Sei gegrüßt“, sagte der Hirtenjunge zum Jüngling des Himmels, als sie bei ihm angekommen waren.

 

„Willkommen, junger Freund. Du bist ein kräftiger Bursche, genau wie ich, doch um ehrlich zu sein, mit jenem Teufelskerl, der den schrecklichen Riesen besiegt, der mit einem Schwertstreich den verwunschenen Stein gespalten und mit einem Satz den verhexten Fluss übersprungen hat, können wir uns beide nicht messen.“

 

„Wenn du ihn treffen würdest, wie würdest du ihn nennen?“

 

„Ich würde ihn Bruder nennen.“

 

„Nun, er steht vor dir. Komm, lass uns Brüder werden!“

 

Sie umarmten und küssten sich, und nachdem sie sich in den Finger gestochen und Blutsbrüderschaft geschlossen hatten, zogen sie gemeinsam weiter.

 

Auf ihrem Weg zur Roten Burg kamen sie in eine Stadt, deren König großen Kummer hatte. Jeden Abend zur Schlafenszeit verschwand seine Tochter auf unerklärliche Weise. Sie blieb die ganze Nacht weg, und niemand wusste, was sie tat. Wenn sie am nächsten Morgen zurückkehrte, war sie geistesabwesend und allem Irdischen entrückt. Der König konnte sie bewachen lassen, soviel er nur wollte, seine Tochter fand immer einen Weg, um ihren Aufpasser an der Nase herumzuführen. Endlich wusste sich der unglückliche Vater keinen anderen Rat, als ausrufen zu lassen, dass derjenige, der herausbrächte, was in den Nächten vor sich ging, die Königstochter zur Frau bekäme.

 

Als der Hirtenjunge das hörte, begab er sich geradewegs ins Schloss.

 

„Majestät, ich werde ausfindig machen, wohin Eure Tochter jede Nacht geht.“

 

„Das hat mir schon so mancher versichert, junger Mann. Einigen von ihnen habe ich Glauben geschenkt. Ich habe ihnen so viele Wachen zur Verfügung gestellt, wie sie nur wollten, doch es war alles vergeblich. Wie dem auch sei, sag mir, was du brauchst, und versuche dein Glück.“

 

„Ich brauche nichts weiter als die Erlaubnis, im Zimmer Eurer Tochter schlafen zu dürfen.“

 

In das Zimmer des Mädchens wurde ein zweites Bett gestellt, und der Hirtenjunge legte sich am Abend dort schlafen.

 

Als ihn die Königstochter sah, trieb sie ihren Spott mit ihm.

 

„Du bist also der kleine Tausendsassa, der herausfinden will, wohin ich nachts gehe?“

 

„Ja, der bin ich. Und ich werde mich nicht davon abhalten lassen!“

 

„Dann lass dir sagen, dass ich nirgendwohin gehe. Sie bilden sich das alles nur ein.“

 

„Umso besser. Ich bin nämlich müde und möchte schlafen.“ Der Junge gähnte unverhohlen.

 

Das Mädchen legte sich in ihr Bett, der Hirtenjunge in seines, und nach einer Weile begann er so überzeugend zu schnarchen, dass man meinen konnte, er schliefe tatsächlich.

 

Die Königstochter fiel auf seine List herein. Sie stand leise auf und zog sich an, um sich dann auf Zehenspitzen davonzuschleichen.

 

Der Junge stand nun ebenfalls auf, setzte seine Tarnkappe auf und folgte ihr.

 

Sie kamen zu einer Lichtung, die im Schein unzähliger Sterne lag. Wunderschöne Nereiden hatten sich hier zum Tanz eingefunden. Es war Elfengesang zu hören, die zarten Geister selbst blieben jedoch unsichtbar. Als die Königstochter die Lichtung betrat, kam eine der Nereiden auf sie zu, um ihr eine Perlenkette um den Hals zu legen. Sie gab jedoch nicht Acht, und die Perlen entglitten ihr, worauf der unsichtbare Hirtenjunge hinzusprang und sie einsteckte. Die Nereiden suchten noch eine Weile danach, dann holten sie eine andere Kette. Nun tanzte die Königstochter mit den anmutigen Wesen. In einem günstigen Augenblick, als sie die Arme weit von sich gestreckt hatte, streifte ihr der Junge blitzschnell einen Ring vom Finger.

 

„Mein Ring! Ich habe meinen kostbarsten Ring verloren!“, rief die Königstochter aufgeregt.

 

Sie suchten den Ring überall, freilich ohne Erfolg. Was den Hirtenjungen betraf, so lief der, so schnell er konnte, zum Schloss zurück und legte sich in sein Bett, wo er dieses Mal tatsächlich bald einschlief.

 

In der Morgendämmerung kehrte auch die Königstochter heim, und wie sie ihn tief und fest schlafen sah, lachte sie spöttisch.

 

Als der Junge erwachte, ging er zum König.

 

„Ich weiß, wohin Eure Tochter jede Nacht geht, doch ich möchte, dass sie dabei ist, wenn ich es Euch sage.“

 

Der König ließ das Mädchen rufen, und der Hirtenjunge begann zu erzählen.

 

„Als ich mich gestern Abend hingelegt hatte und die Königstochter ebenfalls, tat ich so, als sei ich eingeschlafen, ja, ich schnarchte sogar. Da stand sie auf, zog sich an und verließ das Zimmer.“

 

„Das ist gelogen, Vater!“, rief die Königstochter.

 

„Ich folgte ihr. Fragt mich nicht, wieso sie mich nicht bemerkt hat, ich kann Euch beweisen, was ich sage. Lange Zeit gingen wir durch die Nacht, sie voran und ich dicht hinter ihr, bis wir an einen wundervollen Ort gelangten, eine Lichtung im Wald, die von Tausenden, ja Millionen funkelnder Sterne erhellt wurde.“

 

„Er ist ein unverschämter Lügner, Vater! Hört nicht auf ihn!“

 

„Es war eine Stelle“, fuhr der Junge fort, „wo sich Nereiden zum Tanz trafen. Sie trugen lange Gewänder aus Stoffen, so zart wie Spinnweben, und ihre Schleier wehten im Abendwind. Der Gesang unsichtbarer Elfen war zu hören. Die Königstochter wollte mit den Nereiden tanzen, da kam ihr eins der anmutigen Geschöpfe entgegen, um ihr eine Perlenkette um den Hals zu legen. Die Perlen glitten der Nereide aus der Hand, und ich konnte sie unbemerkt einstecken.“

 

„Wie könnt Ihr diesem Schwätzer Gehör schenken?“, unterbrach ihn die Königstochter.

 

„Hier sind die Perlen! Oder erkennst du sie vielleicht nicht?“, fragte der Junge herausfordernd.

 

Die Königstochter wurde rot bis über die Ohren.

 

„Nein, ich habe sie noch nie gesehen“, sagte sie, doch von ihrem Gesicht war Bestürzung abzulesen.

 

„Nachdem ich die Kette eingesteckt hatte“, fuhr der Hirtenjunge fort, „brachten die Nereiden eine andere und legten sie der Königstochter um den Hals. Dann zogen sie das Mädchen in ihren Kreis, und mir gelang es, ihm einen Ring vom Finger zu streifen, während es tanzte. Wiederum bemerkte mich niemand. Hier ist der Ring, ihr werdet ihn sicher alle kennen.“

 

Als die Königstochter den Ring sah, verlor sie die Fassung. Verzweifelt schlug sie sich mit der Hand gegen die Stirn. Und dann war es plötzlich, als ob sie aus einem tiefen Schlaf erwachte und aus einer Traumwelt in die Wirklichkeit zurückkehrte. In diesem Moment war der Bann aufgehoben, den eine böse Zauberin über sie verhängt hatte. Sie fühlte sich wie von einer schweren Last befreit und bat ihren Vater und ihre Mutter unter Tränen um Verzeihung.

 

„Weine nicht, mein Kind“, sagte der König. „Du musst froh sein, weil du von einer furchtbaren Krankheit geheilt wurdest. Diesem jungen Mann hier haben wir das zu verdanken. Er soll nun dein Gemahl werden.“

 

„Nein, Majestät“, entgegnete der Hirtenjunge, „ich kann Eure Tochter nicht heiraten. Gebt sie meinem Bruder zur Frau, dem Jüngling des Himmels. Ihm gebührt größere Ehre als mir.“

 

Und so geschah es.

 

Beim Abschied gab der Hirtenjunge seinem Bruder das Tuch aus dem Stall des geflügelten Pferdes und sprach zu ihm:

 

„Nimm dieses Tuch, Bruder. Wenn es blutig wird, dann bedeutet das, dass ich deine Hilfe benötige, und du musst sofort zu mir kommen.“

 

Der Junge stieg auf den Rücken des Pferdes, und es erhob sich mit ihm in die Lüfte.

 

„Komm, mein Pferdchen, bring mich zu der Roten Burg, denn du allein kennst den Weg dorthin. Wir müssen die Zauberin zwingen, die Marmorprinzessin und all die Menschen, die sie in Tiere verwandelt hat, zu erlösen.“

 

Das Zauberpferd gehorchte. Es flog nun rasch auf die Burg zu, die inzwischen schwach am Horizont zu erkennen war. Dann waren sie da. Erstaunt blickte der Hirtenjunge an dem gewaltigen Bauwerk hoch, dessen Zinnen die Wolken berührten. Es war von allen Seiten von einer hohen Mauer umgeben, einem Schutzwall aus Felsblöcken von der Art, wie sie die legendären Kyklopen verwendeten. Den Eingang versperrten zwei riesige eiserne Torflügel, an denen zahlreiche spitze Schwerter angebracht waren.

 

Für den Hirtenjungen war es nicht schwer, in die Burg zu gelangen. Mit seinem Zauberpferd flog er einfach über die Mauer, hoch über die Köpfe der Wachen hinweg.

 

Unter ihm im Burghof wimmelte es nur so von Tieren. Der Junge wusste, dass sie alle einmal Menschen gewesen waren und dass die Zauberin auch ihn in ein Tier verwandeln würde, falls es ihm nicht gelang, sie zu besiegen.

 

„Mein gutes Pferdchen, flieg zum Dachgarten hinauf, dort sehe ich eine Tür offen stehen.“

 

Das geflügelte Pferd tat, wie ihm geheißen, und wenige Augenblicke später landeten sie auf einer großen Terrasse. Der Hirtenjunge sprang vom Rücken des Pferdes und drang mit dem Zauberschwert in der Hand in ein Zimmer der Burg ein. Da saß die schreckliche Zauberin in einem Schaukelstuhl und wippte gelangweilt hin und her. Bei seinem Anblick fuhr sie in die Höhe, und alle Farbe wich aus ihrem Gesicht.

 

„Rühr dich nicht vom Fleck“, befahl der tapfere Hirtenjunge. „Du machst jetzt, was ich dir sage, sicher wirst du wissen, dass ich mit diesem Schwert den verwunschenen Stein gespalten habe.“

 

Die Zauberin gab sich geschlagen und senkte den Kopf.

 

„Ich werde dir gehorchen“, sagte sie.

 

„Das ist gut. Wir gehen jetzt hinunter, und du wirst die Menschen erlösen, die du in Tiere verwandelt hast.“

 

Sie mussten unzählige Stufen hinabsteigen, bis sie in den Burghof gelangten. Die böse Frau hob den Zauber auf, mit dem sie ihre Gefangenen verwandelt hatte, und alle nahmen ihre ursprüngliche Gestalt wieder an.

 

„Befiehl den Wachen, das Tor zu öffnen und die Menschen hinauszulassen.“

 

Der Zauberin blieb nichts anderes übrig als zu gehorchen.

 

„Jetzt gehen wir wieder nach oben“, befahl der Hirtenjunge.

 

Sie gingen den langen Weg zurück, und, auf der Terrasse angekommen, zwang der Junge die Zauberin, sich vor ihm auf das Pferd zu setzen.

 

„Mein Pferdchen, flieg geschwind zurück zur Burg des schrecklichen Riesen“, sagte er dann.

 

Das Pferd breitete seine mächtigen Schwingen aus und erhob sich mit seiner Last in die Lüfte. Nun lag ein weiter Weg vor ihnen. Stunden und Tage flogen sie über das Land, doch dann mussten sie eine Pause einlegen.

 

Sie sahen unter sich eine Stadt und beschlossen zu landen.

 

Zu ihrem Pech war der König ein Freund der Zauberin. Er nahm den Hirtenjungen mit vorgetäuschter Herzlichkeit auf, und sobald dessen Wachsamkeit nachließ, stahl er ihm das Schwert und versteckte es. Der bösen Zauberin aber gelang es, sich heimlich davonzuschleichen.

 

Der Junge war untröstlich. Das schöne Mädchen in der Burg des Riesen würde nun für immer verzaubert bleiben. Und all die Menschen, die die Zauberin in Tiere verwandelt hatte? Sollten sie ihr restliches Leben hinter Gittern verbringen? Nein, das durfte nicht sein. Doch was konnte er tun? Da musste er an seine Brüder denken, und er fragte sich, ob sie wohl merken würden, wie sehr er ihre Hilfe benötigte.

 

Nun war seine Not tatsächlich so groß, dass der Spiegel, den er dem Jüngling des Meeres gegeben hatte, trübe wurde. Das Messer, das der Jüngling des Landes besaß, schloss sich, und das Tuch, das der Jüngling des Himmels bekommen hatte, wurde blutig. Auf diese Weise merkten die drei, dass ihr Bruder Hilfe brauchte. Sie stiegen auf ihre Wolke, und obwohl sie weit voneinander entfernt lebten, trafen sie schon nach kurzer Zeit an dem Ort zusammen, an den sie ihre Pflicht rief.

 

„Was ist geschehen, Bruder?“, riefen sie.

 

„Man hat mir das Zauberschwert gestohlen, und die Zauberin ist davongelaufen. Jetzt weiß ich mir keinen Rat mehr, und die Marmorprinzessin und die Menschen in der Burg des Riesen können niemals erlöst werden.“

 

Der Jüngling des Himmels bat seinen Vater, die Sonne, die geheimsten Winkel der Erde und des Meeres zu beleuchten.

 

Der Jüngling des Landes befahl allen Tieren, das gestohlene Schwert und die böse Zauberin zu suchen.

 

Und der Jüngling des Meeres befahl den Fischen, die tiefsten Tiefen seines Reiches zu durchforschen.

 

Sie mussten nicht lange warten. Ein Delfin holte das Schwert des Hirtenjungen aus dem Meer, und eine Ameise verriet ihm, wo sich die Zauberin versteckt hatte.

 

So wurde das Unrecht besiegt.

 

Der Junge nahm das Schwert und lief zu der Stelle, die ihm die Ameise gezeigt hatte. Er packte die Zauberin am Schopf und zerrte sie aus ihrem Versteck. Dann zwang er sie, mit ihm zur Burg des Riesen zu fliegen.

 

Als sie zu den Tieren in den Burghof kamen, befahl der Hirtenjunge der bösen Frau, den Zauber aufzuheben, der über ihnen lag. Ihr blieb keine andere Wahl als zu gehorchen. Sobald die Gefangenen wieder menschliche Gestalt angenommen hatten, brachen sie in Jubelrufe aus und dankten ihrem Retter.

 

„Jetzt gehen wir zur Marmorprinzessin!“, kommandierte der Junge.

 

„Du bist ein tüchtiger Bursche“, schmeichelte die Zauberin, „und ich gebe zu, dass du mich besiegt hast. Nachdem ich nun hier und in der Roten Burg so viele Menschen erlöst habe, könntest auch du mir einen Gefallen tun. Dieses Mädchen ist schuld daran, dass der schreckliche Riese meine Liebe zurückgewiesen hat, und ich möchte, dass es für immer verzaubert bleibt.“

 

Der Hirtenjunge zog sein Schwert.

 

„Noch ein Wort und es ist um dich geschehen!“

 

Da blieb der Zauberin nichts weiter übrig, als mit dem Jungen in das Zimmer zu gehen, wo die Marmorprinzessin lag. Sie streckte die rechte Hand aus und berührte sie mit einem zitternden Finger, während sie Worte flüsterte, deren Bedeutung nur sie allein kannte. Wenige Augenblicke später begannen die Lider des Mädchens zu zucken.

 

„Ich habe getan, was du von mir verlangt hast“, sagte die Zauberin zu dem Hirtenjungen. „Was befiehlst du jetzt?“

 

„Geh mir aus den Augen, ich will dich nie wieder sehen.“ Die Zauberin verschwand, und die schöne Fürstentochter kam langsam zu sich.

 

Sie schlug die Augen auf und ließ ihren Blick durch das Zimmer schweifen. Als sie den hübschen Jüngling bemerkte, versuchte sie sich aufzurichten, doch es fiel ihr schwer. Der Hirtenjunge ergriff ihre Hand und half ihr.

 

„Ich muss lange und tief geschlafen haben“, sagte sie.

 

„Das war kein Schlaf. Eine Zauberin hat dich zu Marmor erstarren lassen.“

 

„Jene Frau? O ja, jetzt erinnere ich mich. Ich habe furchtbare Angst. Sie ist böse und rachsüchtig, und selbst wenn ich ihr entkommen könnte, wäre da immer noch der Riese, der schreckliche Riese.“

 

„Hab keine Angst. Der Riese ist tot.“

 

„Und die Zauberin ist soeben im Fluss ertrunken“, verkündeten die drei Brüder des Hirtenjungen, die in diesem Augenblick in der Türöffnung erschienen.

 

„Doch sagt mir, wer hat mich gerettet?“ fragte die Fürstentochter.

 

Und als ob sie die Antwort schon wüsste, sah sie mit strahlenden Augen ihren Retter an, den hübschen, tapferen Hirtenjungen. Dieser zog sie hoch und schloss sie in die Arme, und statt einer Antwort gab er ihr vor den Augen seiner Brüder, denen die Freude im Gesicht geschrieben stand, einen liebevollen Kuss.

 

Schon am nächsten Tag feierten die beiden in der Burg, die nun ihnen gehörte, eine prächtige Hochzeit. Neun Tage und neun Nächte dauerte das Fest, und es waren alle dabei: Die Eltern des Hirtenjungen und die Eltern der Fürstentochter, die sie für immer verloren geglaubt hatten, die drei Blutsbrüder des Bräutigams – die Jünglinge des Landes, des Himmels und des Meeres, und nicht zuletzt all jene Menschen, die die böse Zauberin in Tiere verwandelt hatte. Auch ich saß mit an der Tafel und habe der Hochzeitsgesellschaft jeden Abend meine schönsten Märchen erzählt.

 

Die Diener und die Wachen aber hatten alle Hände voll zu tun. Sie lasen uns jeden Wunsch von den Augen ab, denn sie waren überaus glücklich, dem schrecklichen Riesen und der noch viel schrecklicheren Zauberin entronnen zu sein.

Märchen sind
Erfunden und doch wahr.
An Zauberei will ich nicht glauben,
Seh’ die Welt mit offnen Augen.


Textauszug aus dem Buch "Griechische Volksmärchen I" von Menelaos Stefanides
Copyright © Dimitris M. Stefanides. Ein vollständiger oder teilweiser Nachdruck dieses Auszuges ist ohne vorherige schriftliche Genehmigung des Verlages nicht erlaubt


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